Das Online Magazin zum Berliner Nahverkehr mit Online-Archiv

Das Online-Archiv zum Berliner Nahverkehr

Die bisher größte Auflage von gefälschten Fahrkarten (1975)

Die rapide Preisentwicklung in Westdeutschland ab Ende der 60er Jahre brachte viel Unmut in der Bevölkerung hervor. Wuchsen die Preise für Lebensmittel, Energie und Wohnraum bisher nur langsam an. Die Gründe für den Preisanstieg waren vielseitig und möchten wir hier an dieser Stelle auch nicht darstellen.

Ein Beispiel sei genannt: Der Einfachfahrschein der BVG (West) für eine Fahrt mit der U-Bahn kostete im März 1964 noch 0,35 DM (Autobus 0,40 DM). Ab März 1972 waren bereits 0,60 DM (0,70 DM für den Autobus) zu entrichten. Für den März 1976 ist eine weitere Tarifanhebung angekündigt worden.

Ein Koordinationskreis Nahverkehr organisiert eine Demonstration gegen die beabsichtigte Preiserhöhung  zum März 1972 am 29.1.1972 am Kottbusser Tor, auf der rund 3000  BVG-Benutzer die Rückkehr zum 0,30 DM Einheitsfahrschein fordern. Auch linksmilitante Gruppen schließen sich der Demonstration mit der Forderung eines Nulltarifes an.

Westdeutschland wird in diesen Jahren mehrfach Tatort für bisher völlig unbekannte Gewaltverbrechen gegen Politiker und Wirtschaftsvertreter, für die sich zahlreiche linksextremistische deutsche terroristische Vereinigungen verantwortlich zeichnen. Die bekannteste Gruppe, die RAF (Rote Armee Fraktion) wurde 1970 gegründet, es folgte die “Bewegung 2. Juni” ab 1972 und die “Revolutionäre Zelle ” (RF) ab 1973, aus der sich die “Rote Zora” (RZ) ab 1977 herausbildete.

Die Revolutionäre Zelle (RZ) zeichnete sich etwa 15 Jahre deutschlandweit für die Anschläge an Fahrschein-Verkaufsautomaten öffentlicher Verkehrsunternehmen bundesweit verantwortlich. Die Anschläge reichten von Verklebungen der Einwurfschlitze bis zu kleinen Brandsätzen in den Ausgabeschalen, die die Verkaufsautomaten völlig zerstörten und unbeteiligte Fahrgäste in Gefahr brachten.

16. Juli 1975

Am 16. Juli 1975 zeichnete sich die Revolutionäre Zelle in Berlin verantwortlich für die Verteilung von 100.000 nachgedruckten Sammelkarten (4 Fahrten zu 3 Mark) an Berliner Haushalte. Die Kopien der Sammelkarte waren aufgrund der originalen Vorlage ohne jegliche Sicherheitsmerkmale sehr gut gelungen:

USk492 (Fälschung)
USk522 (Original)

Fälschung: der Buchstabe “S” in der Abkürzung “USk” ist etwas schlanker. Die gefälschten Karten wurden auf Bögen gedruckt und ausgeschnitten. Zudem ist der Schnitt nicht immer sauber ausgeführt worden.

Original: Da diese Fahrkarten vom Block verkauft wurden, bleibt nach dem Lösen vom Stammblock die Abrissperforierung erkennbar.

BZ vom 17.7.1975 (Titelseite)Die Tagespresse in Berlin titelte am folgenden Tag (17.7.1975):

100.000 Fahrscheine gefälscht und verteilt”.

Polizei und Verkehrsbetriebe wiesen darauf hin, dass die Fahrscheine nicht anerkannt werden und bei Antreffen der Kartenbesitzer das erhöhte Beförderungsentgelt (= Schwarzfahrer) erhoben würde. Tatsächlich gestaltete sich die Originalvorlage derart gut für den Nachdruck, dass es dem Busfahrer kaum möglich war, die Fälschung zu entdecken. Die Merkmale waren zu feinfühlig, als dass sie beim raschen Fahrgastwechsel hätte erkannt werden können.

Die Umsteige- Sammelkarten mit den den Ausgabenummern “USk 492, 493, 500, 501 und 503” wurden in blauen Umschlägen mit je 5 Fahrkarten mit einem doppelseitigen Infoflyer in Berliner Innenstadtteilen verteilt. -> Begleitpapier der Revolutionären Zelle vom 16. Juli 1975.

Ferner bat BVG und Polizei um Abgabe der Fahrkarten bei den Polizeidienststellen und rief die Bevölkerung auf, Angaben zu den Personen zu geben, die diese Karten verteilten.Infoflyer der BVG in Reaktion auf die falschen USk (7/1975)Die Berliner Verkehrsbetriebe reagierten mit einem mehrsprachigen Infoflyer, die von den Revolutionären Zellen verteilten Sammelkarten nicht zu verwenden und abzugeben.

Die Aufregung beim Verkehrsbetrieb ist verständlich, nutzten doch täglich rund 20.000 Fahrgäste eine Sammelkarte. Der tatsächliche finanzielle Schaden ist nie genannt worden, wenn er überhaupt zu ermitteln war.

Uns liegen Quellen vor, nachdem lediglich 10.000 dieser Fälschungen bei der Polizei oder BVG abgegeben wurden. Ob die angegebene Auflage von 100.000 Stück überzogen war, oder die Berliner diese Karten doch verwendeten, bleibt völlig offen. Ein Ermittlungsergebnis hat es nach unseren Recherchen von der Berliner Polizei bisher nicht gegeben.

 

17. November 1975

Nach der sommerlichen Verteilaktion wurde die Aktion nochmals am 17. November 1975 wiederholt. Ob nochmals eine Auflage neu gedruckt wurde oder Restbestände aus dem Sommer noch vorlagen, ist nicht bekannt geworden. Die Revolutionäre Zelle gab über das Begleitschreiben bekannt, nochmals 20.000 Umsteige- Sammelkarten nachgedruckt zu haben. -> Begleitschreiben der Revolutionären Zelle vom 17. November 1975.

Die BVG erklärte daraufhin die Umsteige- Sammelkarten (USk) mit den Ausgabenummern 492, 493, 500, 503 ab dem 24.11 .1975 für ungültig. Aus dieser Reaktion kann vermutet werden, dass die Fälschungen durchaus in großer Anzahl Anwendung fanden. Erst mit der Tariferhöhung zum 1. März 1976 veränderte das Unternehmen die Fahrkarten derart, dass sie mit den damals zur Verfügung stehenden Drucktechniken nicht in der Qualität nachgedruckt werden konnten. Das war in Berlin der Beginn der “Fahrkarten mit Sicherheitsmerkmalen”. Nie zuvor wurden in Berlin 120.000 Fahrkarten gefälscht in Umlauf gebracht, dem Autor ist auch nicht bekannt, dass eine vergleichbare Aktion in dieser Größenordnung noch einmal gab. 

Für Fahrkartensammler sind diese Fälschungen aus dem Jahr 1975 noch heute sehr interessant, lassen sie sich doch nur mit geübtem Blick von den Originalen unterscheiden.

Im Januar 1976 wurde seitens der BVG eine Aufklärungskampagne gestartet. Neben Informationsflyern, die die Notwendigkeit der Tariferhöhung erklären auch Informationsfaltblätter, die den neuen Tarif erläutern. Diese Faltblätter wurden von der Revolutionäre Zelle ebenfalls in gleicher Machart mit anderem Inhalt verteilt. Beide Flyer haben wir hier in einem pdf zusammengefasst: -> Informationsflyer der BVG und die Fälschung der RZ <-

Brandanschläge, Terrorismus ab 1976

Die weiteren Aktionen der Revolutionären Zelle driftet weit in den Bereich der Brandstiftung, gepaart mit den politischen Motiven wird ab 1978 der Begriff “Terrorismus auch in der Justiz verwendet. 1976 gehen bei der BVG in Briefe verpackte selbstzündene Sprengsätze ein. Am frühen Morgen des 28. Juni 1977 gelingt ein Brandanschlag in den Räumen der Hauptverwaltung der BVG (Potsdamer Strasse 188). Die Täter gaben an, damit die “Schwarzfahrer- Kartei” der BVG vernichtet zu haben.

BVG Hauptverwaltung, Abteilung "erhöhtes Beförderungsentgelt" 1978

“Der Abend” berichtet bereits zwei Tage später (30.6.1977) von einem weiteren Brandanschlag an einem Fahrkartenautomaten des U-Bahnhofes Leinestrasse.

Der Abend (30.6.1977)

Am 14. März 1978 konnte in letzter Sekunde eine Bombe auf dem U-Bhf. Kleistpark vor dem Verwaltungsgebäude der BVG ein Sprengsatz entschärft werden. Die Revolutionäre Zelle wurden mit der Schaffung der ersten Terrorgesetze in Deutschland (1978)  vom Bundesamt für Verfassungsschutz als terroristische Vereinigung eingestuft worden.

Die Täter der hier genannten Straftaten konnten nach unseren Kenntnissen nie ermittelt werden. bedingt der Organisationsstruktur der RZ gelang es viele Jahre nicht die Tätergruppe namentlich zu ermitteln. Die Gruppe zeichnete sich noch bis 1993 für terroristische Anschläge in Deutschland verantwortlich. Offiziell werden den Revolutionären Zellen / Rote Zora 186 terroristische Anschläge zugewiesen, 40 davon fanden in Berlin statt. Erst mit der Festnahme des Mitgliedes und OPEC-Attentäters Hans-Joachim Klein (1998) gelang es den Behörden, die Strukturen der Vereinigung zu erkennen. So wurde später bekannt, dass es auch Kontakte zur bekannteren RAF-Gruppe gegeben hat.


Erschütternd die Gewalt, die gegen ein harmloses Verkehrsunternehmen aufgebaut wurde. Erschreckend, wie hilflos das Land gegen derartige Angriffe ist. Welche Gefahr für Beschäftigte und Bürger in Kauf genommen wurden, um mit Gewalt Entscheidungen zu erzwingen.

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Quellen und weiterführende Links:

Text und Zusammenstellung: Markus Jurziczek von Lisone (6/2011)

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